Umgekehrter Bias: Wenn persönliche Überzeugungen den Blick auf Daten und Fakten verstellen

Die Hoppenstedt Firmendatenbank bot viele Jahre einen Fundus an Daten, unter anderem zu Frauen in Führungspositionen. Diese erlaubten Analysen nach Firmengröße und Branche, auch über Jahre hinweg und wurden in der Vergangenheit von Journalisten großer Medien als Aufmacher genutzt. Inzwischen heißt Hoppenstedt Bisnode und der Datenriese arbeitete für die aktuelle Gender Auswertung mit dem Kompetenz-Zentrum Frauen im Management der Hochschule Osnabrück zusammen. Aus dieser Kooperation durften wir eine saubere Analyse und einen sachlichen Bericht erwarten. Auch nach mehrfachen Begutachtungen erscheint der Bericht eher als Beispiel für ideologischen Datenmissbrauch und einen durch persönliche Voreingenommenheit verstellten Blick.

Es mutet so einfach an: Wir zählen Männer und Frauen auf verschiedenen Ebenen und vergleichen die Ergebnisse miteinander und mit den Vorjahreszahlen. Damit glauben wir, das gesamte Bild erfasst zu haben und interpretieren fleißig drauf los. Spätestens an diesem Punkt setzen – wie bei allen Interpretationen – unsere persönlichen Filter ein und färben die Sichtweisen. Dieser Effekt zeigt sich besonders auffällig im aktuellen Bericht „Frauen im Management“ (Kompetenzzentrum Frauen im Management, Hochschule Osnabrück, in Trägerschaft der Science to Business GmbH, 2015). Praktisch alle Rohdaten der Bisnode Datenbank werden mit erkennbar vorgefertigten Meinungen interpretiert und die AutorInnen ziehen eine Reihe beliebiger Schlüsse. Da unsere Arbeit in besonderer Weise auf Fakten und belastbaren Erkenntnissen basiert, können wir nicht umhin, eine alternative Sicht auf das interessante Datenmaterial zu bieten.

Der Durchschnitt als Maß der Dinge?

Der durchschnittliche Frauenanteil in den obersten Entscheidungsgremien dient als hoch aggregierter Indikator. Der Bericht stellt beispielhaft den Zeitraum von 01/2011 bis 09/2014 dar, in dem der Anteil weiblicher Vorstände börsennotierter Unternehmen von 3,0 auf 5,9 % anstieg. Anstatt diesen Anstieg unter verschiedenen Gesichtspunkten zu diskutieren – zum Beispiel welche Firmen seither in die Analyse aufgenommen wurden und welche herausgefallen sind oder wie viele der Gesamtpositionen im fraglichen Zeitraum neu besetzt wurden – sprechen die AutorInnen von „entmutigende[n] Ergebnisse[n]“. Dabei bleibt unklar, wenn nicht unverständlich, gemessen an welchen Maßstäben diese Beurteilung erfolgt. Politische Diskussionen nutzen solche Wertungen, um höhere Erwartungen zu vermitteln – in wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Umfeldern kann indes eine differenziertere Reflexion erwartet werden. Dass nicht nur die vielschichtige Analyse fehlt, sondern auch tendenziös selektiert wird, zeigt die Interpretation des Rückgangs des Frauenanteils von 0,1% im Zeitraum 01/2014 bis 09/2014 für alle börsennotierten Unternehmen insgesamt. Hieraus leiten die AutorInnen die Notwendigkeit ab, „die Führungskultur zu verändern und die Besetzung der Spitzenpositionen mit neuem Engagement und unter Nutzung der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse konsequenter anzugehen“. Ein einfacher Blick auf die Rohdaten zeigt indes, dass der Rückgang nur auf eine Verringerung des Frauenanteils in den Vorständen der M-DAX Unternehmen zurückzuführen ist. In allen anderen Indices setzte sich der vorige Steigerungstrend fort. Der Bericht stellt also ausgewählte Ergebnisse gezielt in einem schlechten Licht dar und leitet daraus willkürliche Schlussfolgerungen ab, wie zum Beispiel: „Sollten hier keine Konsequenzen außerhalb des Verlusts der öffentlichen Glaubwürdigkeit entstehen, so blieben die Erfolge deutlich hinter den „Ansagen“ zurück.“

Veröffentlichte Planungsziele als Indikator?

Die AutorInnen analysieren die veröffentlichten Planungsziele für den Frauenanteil in DAX-Aufsichtsräten anhand von zwei Zeitpunkten im Abstand von neun Monaten. Den Rückgang von 50 auf 44% interpretiert der Bericht negativ, ohne mögliche Einflussfaktoren zu nennen – zum Beispiel den problematischen Zeitraum oder die damals schwelende Gesetzesdiskussion. Auch vermissen wir eine eingehende Analyse der Planungszahlen nach relativen oder absoluten Steigerungsvorhaben, Plausibilität oder Ambitionsniveau (wie fundierte Autoren dies bereits geleistet haben). Dass Planungsziele für Vorstände kaum vorhanden sind führen die AutorInnen auf

das Glass Cliff-Phänomen zurück. Einen Zusammenhang zu veröffentlichten Zukunftszahlen können wir beim besten Willen nicht erkennen – und der Bericht vermag auch keinen Zusammenhang zu erläutern. Wie groß der Unterschied zwischen den Gremien Vorstand und Aufsichtsrat – gerade mit Blick auf den Frauenanteil – ist, reflektiert der Bericht nicht.

Top- und Mittelmanagement als Sammelkategorie?

Auch an anderer Stelle zeigt sich, dass Differenzierung keine Stärke der konkreten Analyse-Arbeit darstellt. Die Mischkategorie „Top- und Mittelmanagement“ dient als weiteres Interpretationsobjekt für die AutorInnen. Für diese Sammelkategorie weisen die Daten eine Steigerung von 14,4% im Jahr 2006 auf 21,2% im Jahr 2014 aus. Die Aussagekraft der kombinierten Zahlen müsste eigentlich angezweifelt, zumindest aber relativiert werden. Stattdessen finden die InterpretatorInnen erneut einen Grund zur Klage: In den Jahren 2006-2010 hatte sich ein stärkeres Wachstum (+5%) gezeigt als in den Jahren 2010-2015 (+1,6%). Dieses geringere Wachstum bildet die Kernaussage des Berichts an dieser Stelle – ohne auf mögliche Gründe einzugehen und ohne die Steigerung insgesamt zu würdigen. In unserer Arbeit legen wir großen Wert auf die sorgfältige Analyse konsistenter Führungsebenen, denn die Entwicklungsmechanismen, die Beschäftigte in ihre erste Führungsposition (auf der untersten Führungsebene) bringen, sind andere als bei der weiteren Entwicklung. Für die obersten Führungsebenen (je nach Unternehmensgröße ein, zwei oder mitunter auch drei) entfalten die formalisierten Prozesse oft nur noch eine geringe Relevanz. Eine Sammelauswertung erscheint daher wenig sinnvoll.

Kinderbetreuung soll Frauen in Führung verhelfen?

Auf der Suche nach Erklärungen und Empfehlungen greifen die AutorInnen auch auf das Standardrepertoire zurück, das bei stereotypisch denkenden Führungskräften und Politikern beliebt ist: Die Kinderbetreuung, die scheinbar Frauen in Führungspositionen verhelfen soll. Entgegen der Beteuerung an einer Stelle des Berichts, dass „die Entwicklungsstränge Frauenanteil im Top- und Mittelmanagement und die Entwicklung der Kinderbetreuungsplätze nicht direkt verglichen werden sollen“ prangern die AutorInnen „die steigende Anzahl an Kinderbetreuungsplätzen durch den Staat“ als „nicht ausreichend“ an, „um den Anteil an Frauen im Top- und Mittelmanagement zu befeuern.“ Weder die hier implizit beschriebene Rolle des Staates noch der verbal starke Hebel lässt sich durch belastbare Studien oder andere Indikatoren belegen.

Talent-Entwicklung als statischer Indikator?

Der Bedeutung des Pipeline-Managements wird die Studie durch eine Betrachtung des Mittelmanagements gerecht. Eine sorgfältige Betrachtung über mehrere Jahre hinweg gäbe Aufschluss darüber, wie gut sich Frauenanteile von den unteren auf die mittleren und oberen Ebenen entwickeln. Diese Analyse finden wir leider nicht im Bericht. Wir erfahren, dass sich Frauen im Mittelmanagement „deutlich besser etabliert“ haben als in der Spitze der Unternehmen. Um zu einer Bewertung zu gelangen, greifen die AutorInnen zu einem Vergleich nach Firmengröße, der an dieser Stelle beliebig und insofern unpassend ist: „insbesondere große Unternehmen [verpassen] seit vielen Jahren die Chance, einen umfassenden Nachwuchspool aufzubauen, aus dem heraus der weibliche Führungsnachwuchs entwickelt werden könnte.“ Dass das Zahlenmaterial für den jüngsten Zeitraum zeigt, dass der Frauenanteil im Mittleren Management bei Großunternehmen leicht angstieg, während er bei kleinen und mittleren stagnierte bzw. leicht zurückging, scheint keine Berücksichtigung zu finden.

Firmengröße als Erklärungsvariable?

Das Augenmerk auf Unternehmensgröße brachte schon vor über zehn Jahren interessante Einblicke in die Dynamik der Syndrome der Hierarchie. Einsichten zum Einfluss der Organisationsgröße bietet der Bericht nicht, präsentiert dafür aber die Rohdaten in normativer Sprache: „Bei den kleinen Unternehmen liegt der Anteil der Frauen im Mittelmanagement bereits bei 38,2 Prozent“. Die Vergleichszahlen lauten 29,2 Prozent für mittlere Unternehmen und 20,3 Prozent für große. Die tendenziöse Ausdrucksweise „bereits“ lässt sich aus dem reinen Datenmaterial nicht erklären. Tatsächlich zeigen zahlreiche Untersuchungen, dass der Frauenanteil im Management kleinerer Organisationen (privat und öffentlich!) höher ist als in größeren – und es existieren plausible Erklärungen dazu.

Ausländische Vorstände: Futterneid oder Sündenböcke?

Der Bericht von Bisnode bietet zusätzlich zum Untersuchungsgegenstand einen Ausblick auf ein anderes Themenfeld, der auf fremden Daten basiert. Die AutorInnen wählen das Thema „Internationalität“ in DAX Vorstandsgremien und vergleichen die Daten von Hansen/Schönfeld (2014) zu nicht-deutschen Vorstandsmitgliedern mit ihren eigenen Daten zu weiblichen DAX Vorständen. Dieser Vergleich ist nicht nur ein Apfel-Birnen-Vergleich, er ist auch statistisch gesehen falsch, da ausländische Vorstände auch Frauen sein können und die weiblichen Vorstände auch Ausländer sein können. Weshalb der Report gerade Ausländer als Vergleich heranzieht, wird nicht erkennbar. Und auch hier erfahren die LeserInnen wichtige Detaildaten nicht: Von den 30% nicht-deutscher Vorstände stammt ein großer Teil aus dem deutschsprachigen Ausland. Der Anteil der Vorstände, die – soweit man dies analysieren kann – aus einem Land ohne deutsche Muttersprache stammen, liegt bei 23%. So oder so: die Zahlen spielen den AutorInnen scheinbar in die Hände, denn sie können hieraus Vorwürfe ableiten: „Es scheint somit eher möglich, Vorstandsmitglieder aus anderen Ländern und Herkunftskulturen in Vorstände zu integrieren, als weibliche Vorstandsmitglieder.“ Diese machten „im Jahr 2013 immer noch eine extreme Minderheit von 7 Prozent“ aus.

 

Keine Minderheiten?

Ach ja, Minderheiten. Wenn wir uns den Themen Behinderung, Religion oder sexuelle Orientierung / Identität zuwenden, so erkennen wir, welche Benachteiligung und Monokultur jenseits der dominanten Themen Geschlecht, Geographie und Generationen herrscht: Die Fragen, weshalb Talente mit Behinderung, einer anderen Religion oder anderer sexueller Orientierung nicht in Top-Etagen gelangen, wird noch nicht einmal in nennenswerter Weise erforscht. Und wenn große Dateninstitute und öffentliche Hochschulen ihre Ressourcen in so einseitiger Weise einsetzen, wie in diesem Falle geschehen, wird sich daran auch nichts ändern.

Wissenschaftler lernen den sachlichen Blick auf Daten und Fakten und wissen um die Bedeutung sauberer Analysen. Auch wenn wir bei Ungleich Besser keine Wissenschaftler sind haben wir von Anbeginn großen Wert darauf gelegt, fakten- und erkenntnisbasiert zu arbeiten. Im Interesse der Unternehmenspraxis und unserer Kunden ist es uns wichtig, stets ein möglichst vollständiges Bild des jeweiligen Sachverhaltes und der relevanten Einflüsse zu zeichnen.

Für die Praxis

Das Messen, Zählen, Wiegen stellt für die Diversity Praxis eine Priorität dar, denn in den meisten Unternehmen existiert eine hohe Affinität zu Monitoring, Controlling oder KPIs. Was genau gemessen werden soll und ob der Aufwand für die fraglichen Aktivitäten gerechtfertigt ist, bleibt häufig im Unklaren. Eine saubere Abgrenzung von Fortschritts-/Veränderungsmessung (kommen wir unseren Zielen näher?), Erfolgsmessung (erzielen wir die gewünschten Effekte?) und Mehrwertmessung (wie viel größer ist der Nutzen im Vergleich zu den Kosten?) erscheint gleich zu Anfang von überragender Bedeutung. Je nach Ansatz kommen unterschiedliche Instrumente infrage, die in Kapitel 7.5 des Fachbuches „Diversity & Inclusion: Das Potenzial-Prinzip“ im Überblick dargestellt sind.