Das größte ungenutzte Potenzial in der Arbeitswelt

Konferenzen sind unter anderem Orte des Schaulaufens. Die nationale D&I Konferenz in Litauen wollte dagegen von Anfang an auch kritische Sichtweisen ermutigen.

Die Huldigung der Erfolge wichtiger Partner der Charta der Vielfalt Litauens bildeten eine natürliche Eröffnung der Konferenz 2019. Der stellvertretende Außenminister, der EU-Vertreter und der Bürgermeister von Vilnius beschrieben die Bedeutung der Initiative und die Swedbank zeigten als Gastgeberin den wirtschaftlichen Rahmen.

Ein differenzierter Blick auf die D&I Agenda

Wissen wir wirklich, was alles hinter Vielfalt steht? Wie kann man vielfältige Märkte verstehen? Wie kann man sensiblere Themen einbeziehen? Was bedeutet es, einen ganzheitlichen D&I-Ansatz zu haben? Die Konferenz zielte deutlich darauf ab, über offensichtliche Fragen hinauszugehen und zudem europäische Erfahrungen einzubinden. Im ersten Plenumsblock der Veranstaltung leisteten daher ExpertInnen aus Lettland, Großbritannien und Deutschland ihre Beiträge.

Was Sie bei der Entwicklung von D&I vermeiden sollten

Mythen, Fehler oder Mittelmäßigkeit: Der europäische D&I-Ingenieur Michael Stuber nahm seinen Auftrag wahr, die Dinge beim Namen zu nennen und präsentierte gängige (Fehl-) Annahmen und korrespondierende Erkenntnisse aus seiner paneuropäischen Forschungs- und Beratungsarbeit.

Ein zusammenfassender Bericht über die Konferenz und weitere Informationen über die Charta der Vielfalt in Litauen finden Sie hier:

 

„Jeder ist Teil der Vielfalt“.

Hintergrundgespräch über Vielfalt und Einbeziehung für die erste litauische Diversity-Konferenz

Wie würden Sie als Diversity-Pionier Vielfalt am Arbeitsplatz beschreiben?

Michael Stuber: Kurz und bündig könnte man sagen, dass Vielfalt das größte ungenutzte Potenzial an den meisten Arbeitsplätzen darstellt. Dabei muss man gleichzeitig anerkennen, dass Vielfalt an sich keinen Nutzen bringt. Eine offene Denkweise – individuell, in Teams und in der Kultur – ist erforderlich und muss mit fairen Prozessen und einbeziehenden Verhaltensweisen einhergehen, um Nutzen zu schaffen.

Was bedeutet das für Führungskräfte, Mitarbeiter oder Kunden von Unternehmen?

Michael Stuber:

  • Für Führungskräfte bietet Diversity die Möglichkeit, die immer komplexere Zukunft besser zu bewältigen. Innovation, Veränderung, funktionsübergreifende Teams und internationale Zusammenarbeit werden verbessert, wenn Vielfalt effektiv gestaltet wird.
  • Für MitarbeiterInnen bedeutet Diversity, dass ihre Talente und Bedürfnisse bestmöglich erkannt werden und die Zusammenarbeit in Teams reibungslos verläuft.
  • Für Kundinnen und Kunden bedeutet Diversity, dass sie als Einzelpersonen wahrgenommen werden und nicht als StandardkonsumentIn. Produkte, Werbung, Websites und Geschäfte berücksichtigen ihre Unterschiede.

Wie hat sich die Definition und Wahrnehmung von Vielfalt im Laufe der Jahre verändert? Ist die Situation in Gesellschaft und Wirtschaft heute besser als vor 10, 20, 30 Jahren?

Michael Stuber: Wir sehen deutlich zwei unterschiedliche Trends: Auf der einen Seite haben Populismus und Filterblasen zu einer Polarisierung und zu echten Angriffen auf die Freiheit und Würde der Menschen – meist Frauen oder Minderheiten – geführt. Andererseits verstehen wir heute viel besser, was es braucht, um Vielfalt zu nutzen, Integration zu fördern und Zugehörigkeit zu erreichen. Dies ermöglicht Unternehmen heutzutage schneller voranzukommen als jene Pioniere, die wir vor 20 Jahren betreut haben.

Können Sie die Situation in unserer Region beschreiben? Wie heben sich Litauen und andere baltische Länder in Bezug auf Vielfalt vom Rest Europas ab (oder nicht)?

Michael Stuber: Jedes Land hat seine eigene Geschichte, die die gegenwärtige Kultur wesentlich prägt. Das Verständnis dieses Erbes bildet die Grundlage, die D&I Situation eines Landes zu verstehen. Litauen unterscheidet sich zwar historisch von den anderen baltischen Staaten, hat aber eine gemeinsame jüngere Geschichte der Befreiung von der sowjetischen Vorherrschaft und der jüngsten EU-Mitgliedschaft. Unsere vergleichende paneuropäische Analyse im Jahr 2016 ergab einen Fokus auf Alter und Behinderung in zwei der baltischen Staaten, während andere Vielfaltsthemen weniger aktiv behandelt wurden. Diversität kann als Vermittler wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Trends gesehen werden – zunehmend beeinflusst durch den öffentlichen Diskurs, z.B. Social Media.

Wie zahlt sich Vielfalt am Arbeitsplatz aus? Wie können die konkreten Ergebnisse der Umsetzung von Vielfalt und Integration gemessen werden?

Michael Stuber: Die Wertschöpfung aus Vielfalt erfordert viel mehr, als nur Unterschiede zu feiern. Sie verlangt von Menschen, Teams und Organisationen zu verstehen, wo sie blinde Flecken, Vorbehalte, Verzerrungen oder unbeabsichtigt ausschließende Prozesse oder Verhaltensweisen haben. Sobald diese gute Absicht mit einer echten Integration kombiniert wird, können Unternehmen sicher sein, dass sie eine höhere Produktivität, mehr Innovation, eine bessere Marktdurchdringung sowie eine bessere Reputation, z.B. auf dem Arbeitsmarkt oder in der Öffentlichkeit, erzielen. Diese Vorteile sind in mehr als 250 belastbaren Studien (keine einfachen Umfragen) belegt.

Welche sind die häufigsten Fehler, die Arbeitgeber bei Diversity machen?

Michael Stuber: Der erste und natürliche Fehler ist, sich zu sehr auf Unterschiede oder Randgruppen zu konzentrieren; dies kann rasch zu Spaltungen führen. Zweitens sind viele so begeistert vom Business Case, dass sie Barrieren und Biases, die den Status Quo erzeugt haben, nur oberflächlich beachten. Dies kann dazu führen, dass zwar ein Ausgleich für marginalisierte oder benachteiligte Gruppen angestrebt wird, während das eigentliche Problem, die herrschenden Regeln, Dynamiken und Privilegien des Mainstreams vernachlässigt wird. Der jüngste Fehler ist das, was ich Blaupausentum nenne; gerade in Netzwerken sehr verbreitet. Jedoch: Unternehmen würden in keinem ernsthaften Wirtschaftsthema derartige Das-probieren-wir-auch-mal-Strategien einsetzen. Es beunruhigt mich, dass viele nicht die gebotenen Analysen – die wir Engineering D&I nennen – durchführen, um daraus wirkungsvolle Lösungen abzuleiten.

Stimmt es, dass Vielfalt in einem Unternehmen nicht unbedingt ein Thema der Personalabteilung sein sollte? Was würde sich ändern, wenn die Themen Vielfalt und Einbeziehung auf Führungskräfte und strategisch wichtige Entscheidungsträger übertragen würden?

Michael Stuber: Vielfalt kann an verschiedenen Orten im Unternehmen wachsen. Wir haben Firmen gesehen, die zuerst Diversity-Marketing starteten und dann erst intern arbeiteten. Andere starten in einer Innovationseinheit und skalieren Diversity von dort aus. Was sie alle feststellen, ist, dass HR eine große Zahl von Grundlagen liefern muss – und das ist nicht trivial. Es geht um ein Mainstreaming von D&I in Rekrutierungs-, Entwicklungs- und Bindungsprozesse und -praktiken. Um nachhaltige Vorteile zu erzielen, muss jede Organisation an ihrer Kultur und an der Führung unter D&I-Gesichtspunkten arbeiten.

Noch einmal ein Blick auf die Definition von Vielfalt. Gibt es jemanden, der nicht als vielfältig bezeichnet werden kann? Können und sollen wir die Wahrnehmung ändern, dass es bei Vielfalt nie um jene geht, die sich nicht durch Ethnie, Herkunft, Alter oder sexuelle Orientierung von der Mehrheit unterscheiden?

Michael Stuber: Jeder Mensch hat einen individuellen Hintergrund, eine eigene Perspektive und eigene Talente und ist ganz klar Teil des ganzheitlichen Diversity-Ansatzes. D&I-Schulungen, Veranstaltungen, Mitarbeiternetzwerke und Kampagnen sollten dies deutlich widerspiegeln. Wir wissen jedoch, dass dies oft nicht der Fall war. Und tatsächlich hat der Fokus auf Frauen und Minderheiten dazu geführt, dass sich die so genannten weißen Familienväter ohne Behinderung im mittleren Alter zuerst ausgeschlossen, dann schlecht und schließlich benachteiligt fühlten. Starre politisch motivierte Quoten, übertriebene Selbstdarstellungen auf Demonstrationen oder exotisierter Multikulturalismus haben viele überfordert, die heute Gegner von D&I sind; und Beispiele wie der Google Memo Case und andere feindliche Aktionen zeigen dies überdeutlich.

Daher liegt einer unserer Arbeitsschwerpunkte darin, Diversity-Programme so umzugestalten, dass sie breit angelegt sind und betriebswirtschaftlichen Nutzen bringen.