Ein Training baut Brücken mit digitalen Talenten

Das Projekt Digital Explorers verbindet Litauens ICT-Sektor mit jungen nigerianischen IT-Spezialisten – ein echter Mobilitätstest. Mein Training sollte das Potenzial und die Fußangeln des Projekts adressieren.

Ein mutiges Pilotprojekt zwischen Litauen und Nigeria

2019 startete Litauen ein bislang einzigartiges Vorhaben: Digital Explorers, ein dreijähriges Projekt, das junge ICT-Spezialisten aus Nigeria in litauische Unternehmen brachte. Die Idee war ebenso einfach wie ambitioniert: die digitale Wirtschaft Litauens stärken und zugleich afrikanischen Talenten Karrierechancen eröffnen. Zwischen strategischer Vision und betrieblicher Realität lag jedoch ein komplexes Geflecht aus Erwartungen, Stereotypen und interkulturellen Herausforderungen.

Vor diesem Hintergrund wurde ich gebeten, in Kaunas ein eintägiges Vorbereitungstraining für die beteiligten Unternehmen und das Projektteam durchzuführen – unmittelbar bevor die ersten nigerianischen Spezialisten eintrafen. Ziel war es, Bewusstsein zu schaffen, Perspektiven zu verschieben und die Teilnehmenden mit praktischen Werkzeugen auszustatten, um dieses wegweisende Experiment erfolgreich zu gestalten.

Vom „Warum“ zum Geschäftsnutzen – der Vormittag

Am Vormittag stand die Positionierung von Diversity & Inclusion als Treiber von Performance im Mittelpunkt – weit entfernt von der Einordnung als (weiches) Sozialthema. Wir besprachen empirische Erkenntnisse, wie diverse Teams Innovation fördern, Agilität steigern und neue Märkte erschließen – Vorteile, die gerade für Litauens schnell wachsende ICT-Branche entscheidend sind.

Die Diversity-Probleme der ICT-Branche

Litauens ICT-Sektor boomt, leidet aber unter problematischen Engpässen: einem Mangel an Fachkräften, einer deutlichen Unterrepräsentanz von Frauen und einem weitgehenden Fehlen ethnischer Vielfalt. Viele Unternehmen suchten bereits nach Lösungen, griffen aber meist auf kurzfristige Maßnahmen wie Outsourcing oder befristete Verträge zurück. Das Projekt Digital Explorers bot hier einen strategischeren Ansatz: internationale Talente gezielt anziehen und integrieren.

Stereotype in der Tech-Welt

Doch die Bedenken waren spürbar. In Gesprächen wurde die Frage gestellt: Können nigerianische Spezialisten die gleichen technischen Standards erfüllen? Funktioniert die Kommunikation reibungslos? Solche Stereotype, wenn auch selten offen geäußert, prägten die Erwartungen. Im Training gingen wir diesen Annahmen direkt nach und machten deutlich, dass Kompetenz und Motivation keine Grenzen kennen – und dass Vorurteile mehr über unsere eigenen Filter aussagen als über das Talent, dem wir gegenüberstehen.

Das Potenzial-Prinzip

Die Teilnehmenden reflektierten ihre eigenen Wahrnehmungen und erkannten: Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie wir sind. Daraus leitete ich das Potenzial-Prinzip ab – ein Modell, das Vielfalt, Offenheit und Einbeziehung mit messbaren Geschäftsergebnissen verbindet. Von Rekrutierung bis Zusammenarbeit zeigte sich, wie IT-Unternehmen kulturelle Vielfalt nicht nur zur Schließung von Fachkräftelücken nutzen, sondern auch zur Stärkung von Kundenorientierung und Wettbewerbsfähigkeit.

Warum passiert es nicht automatisch?

Anschließend diskutierten wir die Barrieren: unbewusste Vorurteile, monokulturelle Normen und die Trägheit etablierter Routinen. Denn warum, läuft D&I nicht von selbst ab, wenn es doch ein Win-win-win ist? Gemeinsam analysierten wir die Mechanismen, die Menschen daran hindern, Unterschiede produktiv zu nutzen – und erarbeiteten Strategien, um diese Hürden zu überwinden.

Den Spiegel vorhalten – der Nachmittag

Nach dem gemeinsamen Verständnis des „Warum“ und „Was“ rückte am Nachmittag die individuelle Reflexion und Teamarbeit in den Vordergrund.

Eigene Annahmen hinterfragen

Die Teilnehmenden stellten sich Fragen wie: Wie entstehen Stereotype? Welche „automatischen Reaktionen“ prägen den Arbeitsalltag? Und welchen ersten Eindruck gewinnt ein nigerianischer Newcomer beim Eintritt in ein litauisches Unternehmen?

Inklusive IT-Teams gestalten

Anhand von Fallbeispielen und Rollendiskussionen erkannten ManagerInnen und HR-Fachkräfte die Bedeutung von psychologischer Sicherheit und inklusiver Teamdynamik. Praktische Tipps entstanden: Raum geben, damit neue Mitarbeitende ihre Stärken zeigen können, Buddy-Systeme einführen, in den ersten Wochen übermäßig kommunizieren und Menschen nicht als VertreterInnen einer Kategorie behandeln, sondern als einzigartige Individuen.

Von Vorurteilen zu Neugier

Zum Abschluss nahmen wir Stereotype direkt aufs Korn – von Ernährung und Religion bis zu Kommunikationsstilen – und zeigten, wie Neugier, Empathie und bewusste Anpassung kulturelle Unterschiede in Lernchancen verwandeln können.

Erkenntnisse für den ICT-Sektor

Der Tag in Kaunas machte deutlich: Interkontinentaler Talentaustausch ist möglich und wertvoll – wenn Unternehmen bereit sind, in kulturelle Intelligenz zu investieren. Für IT-ManagerInnen und HR-Verantwortliche bot das Projekt Digital Explorers einen Blick in die Zukunft globaler Zusammenarbeit: diverse Teams, verteilte Talente und die Notwendigkeit inklusiver Führung.

Am Ende ging es um eine klare Botschaft: Vielfalt ist keine Wohltätigkeit und kein „Nice-to-have“. Vielfalt ist ein Hebel, um bessere Performance zu gestalten, indem Unterschiede nicht blockieren, sondern beflügeln. Genau diese Haltung trugen wir weiter, als Litauen seine nigerianischen Digital Explorers willkommen hieß.