Auch Politik und Gesellschaft brauchen verantwortungsvolle Führung
Sie galten lange Zeit als Rahmenbedingungen für DEI: rechtliche Vorgaben der Politik und Wertewandel in der Gesellschaft. Mittlerweile erleben wir deutlich drastischere Wechselwirkungen mit weitreichenden Konsequenzen.
Politiker, die Vielfalt als Gegensatz zu Leistungsorientierung ansehen, Aktivisten, die pauschal ältere Männer verurteilen oder Medien, die Migration überwiegend als ‚Problem‘ darstellen. Ist all dies Teil einer gesunden, vielfältigen Realität oder sind es unglückliche soziale Ausrutscher? Erleben wir eine neue „Qualität“ in diesem Diskurs oder gab es diese Auseinandersetzung immer schon? Und gibt es überhaupt eine konstruktive, pragmatische Alternative zu diesem, von Ideologien geleiteten Umgang?
Aus meiner aktuellen Arbeit zum Thema „Führung von DEI in Unternehmen“ erscheint mir dieser Blick auf Führung in Politik und Gesellschaft wesentlich und wertvoll.
Über das Zusammenleben und zusammen überleben
Die Geschichte der Menschheit basiert, nüchtern betrachtet, aus Migration und Vielfalt. Stämme mussten oder wollten anderenorts leben, und sie mussten oder wollten sich dort mit anderen einigen, ob und wie das gemeinsam gelingt. Genetische Vielfalt führte schließlich zur Höherentwicklung und je größer die Herausforderungen wurden, sei es technisch oder die frühe weltentdeckerische Neugier, umso wichtiger wurde die Zusammenarbeit über allerlei Grenzen hinweg.
Unsere heutigen Herausforderungen von Klimawandel über Gesundheit und Welternährung bis hin zu Sicherheitsfragen betreffen die Gesellschaften der gesamten Welt und erfordern – ich dachte, das sei offensichtlich – gemeinsame Anstrengungen. Stattdessen beobachte ich seit ca. acht Jahren immer mehr und immer neue Spaltungstendenzen, angetrieben von politischen oder gesellschaftlichen Führungspersonen. Das Spektrum reicht dabei von ideologischen Parteien über gesellschaftliche AktivistInnen bis zu Medien oder der öffentlichen Verwaltung. Was allen gemein zu sein scheint ist ein Antrieb für ihre eigenen Interessen oder die ihrer Bezugsgruppe. Dies führt unweigerlich zu Auseinandersetzungen und mithin nicht zur Lösung großer, komplexer Herausforderungen. Für diese braucht es – wie gesagt – Zusammenarbeit und diese erfordert vor allem eins: verantwortungsvolle Führung.
Toxische Politik der Feinbilder
Die besten Lösungen zu finden erfordert, das ist hinreichend belegt, die Kombination vielfältiger Kompetenzen und Perspektiven; dies bringt mitunter intensive Auseinandersetzungen mit sich. Fehlt hierfür der Wille, der Sachverstand oder anderes, fanden PolitikerInnen aller Epochen einen anderen Weg, Stimmen und eine aktive Gefolgschaft – einen Bund (fascio) – für sich zu gewinnen: Die Sündenbockstrategie.
Bis 2016 sahen wir schablonenhafte Schuldzuweisungen vor allem bei kleinen, als extremistisch abgetanen Parteien. Dass Donald Trump mit einem hasserfüllt-hetzenden Wahlkampf gegen etliche gesellschaftliche Gruppen Erfolg hatte und das Brexit-Referendum mit einer ähnlichen Strategie angenommen wurde, löste einen Dominoeffekt aus.
Politische und gesellschaftliche Kräfte agieren und agitieren seither erfolgreich mit Dagegen-Parolen, die nicht selten gegen Gruppen gerichtet sind. Vom Mittelalter bis in die 1930er Jahre dienten Juden als Sündenböcke, heute sind es meist MigrantInnen (allerdings nur die, der letzten Jahrzehnte) oder, je nach Thema und Situation, die ältere Generation, Grüne, Reiche, Woke, Arbeitslose oder LGBT+.
Diese Aneinanderreihung mag verstören und das sollte sie auch. Denn bei aller Unterschiedlichkeit der Kontexte sehe ich den gemeinsamen Mechanismen der Schuldzuweisung auf Basis stereotypischer Annahmen. Diesen sozialen Abkürzungsreflex wird es wohl immer geben, wenn Menschen aufeinandertreffen. Allerdings sehen wir aktuell eine gefährliche Normalisierung solcher Vorwurfsstrategien in mehreren Umfeldern.
Kontraproduktive politische Führerschaft
Rassistisch motivierte oder nationalistische Bewegungen und Parteien wurden jahrelang als Neonazitum verteufelt. Seit diese jedoch mit intelligenten Strategien erfolgreich sind, eignen sich andere Parteien deren Themen oder Rhetorik an. Je nach Spektrum mit sehr unterschiedlicher Wirkung:
- Parteien am linken Rand verzeichnen ähnliche Erfolge wie jene am rechten
- Bürgerliche Parteien dagegen festigen damit vor allem ihre Kernwählerschaft, während sie nicht den erhofften Zugewinn sehen
Die problematischen Effekte des Nachahmens oder Mitmachens sind erstens, dass abschätzige Funktionsweisen salonfähig gemacht und implizit bestätigt werden und zweitens, dass neuer Raum für noch drastischere Positionen geschaffen wird – denn die vormals extremen Inhalte wurden ja bürgerlich.
Hier vermisse ich verantwortungsvolles Führungsverhalten, in Deutschland namentlich von Meinungsführern wie Friedrich Merz, Markus Söder oder Christian Lindner. Sie haben dem politisch-gesamtgesellschaftlichen Klima vor allem jüngst mit inakzeptablen, polarisierenden Botschaften Schaden zugefügt. Um Punkte zu sammeln arbeiten sie sich an ‚Anderen‘ ab anstatt konstruktive Ideen oder gar positive Bilder der Zukunft vorzustellen, die unseren komplexen Herausforderungen gerecht werden und für alle wertvoll wirken.
Gut gemeinter Aktivismus mit Nebenwirkungen
Scheinbar ganz anders verläuft gesellschaftlicher Protest. Von Klimanotstand über #MeToo, und #BLM bis zu Pride setzen sich viele Menschen für Themen ein, die sie für eine große Gruppe, für ganze Gesellschaften oder die ganze Welt als relevant erachten. Das Engagement erscheint per Definition altruistisch und jede Kritik – selbst an den sogenannten Klimaklebern oder Kunstbeschädigern – zieht den Verdacht des Reaktionären auf sich.
Im Kontext verantwortungsvoller Führung muss jedoch die Frage gestellt werden, welche breitere, ganzheitliche Sicht die jeweiligen MeinungsführerInnen auf alle (mittelbar) betroffenen Gruppen oder Themen haben. So wurden die deutlich ageistischen Narrative mehrerer Bewegungen seltenst infrage gestellt. Erst antisemitische Äußerungen aus aktivistischen Umfeldern ließen Menschen aufhorchen. Überproportionale Sympathien für extreme Parteien unter jungen WählerInnen zeigten schließlich eine fundamentale Schieflage.
In aktivistischen Umfeldern muss verantwortungsvolle Führung den Blick für das große Ganze stärken, Abhängigkeiten zwischen Themenfeldern und Gruppen besser bedenken und vor allem eine deutlichere Wertekohärenz einfordern. Pauschale Schuldzuweisungen müssen No-Gos sein, ansonsten erodiert die Glaubwürdigkeit ganzer Bewegungen (weiter).
Medien, Bildung und öffentlicher Bereich als Bindeglieder
Mit ihren breiten, geradezu universellen Aufträgen sollten Medien, Bildungseinrichtungen und öffentliche Stellen eigentlich einen Ausgleich oder ein Gegengewicht zu Polarisierungstendenzen bieten. Während ich dies schreibe, bemerke ich, dass ich – weltweit gesehen – damit wohl einer idealisierten, romantischen Vorstellung unterliege. Dennoch bleibe ich dabei, zumindest für die EU, für Europa und die sogenannte westliche Welt.
Dort beobachte ich mit großer Irritation
- Medienberichterstattungen, die eine Sichtweise überbetonen oder keine kritischen Nachfragen vornehmen (häufig in Privatmedien, auch in öffentlichen Nischenformaten).
- Bildungsangebote, die einzelne Narrative vorstellen und keine Hilfestellung zum Perspektivwechsel anbieten.
- Öffentliche Stellen, wie Polizei oder Verwaltungen, die offen rassistische Elemente in ihren Prozessen, Botschaften oder Verhaltensweisen anwenden und kaum Reflexionsbereitschaft hierzu zeigen.
Verantwortungsvolle Führung in diesen wichtigen Bereichen muss mehr Bewusstsein für den Einfluss und mithin die Tragweite der jeweiligen Tätigkeit entwickeln. Konsequentes, selbstkritisches Hinterfragen gängiger Ansätze oder Botschaften ist zur Überwindung der im Gang befindlichen Spaltung wesentlich.
Erfolgsmodelle für Zusammenarbeit und positive Visionen
Da ich selbst bereits öfter anmerkte, dass Kritik viel leichter fällt als konstruktive Vorschläge, ist es mir wichtig, drei positive Beispiele für verantwortungsvolle Führung aus unterschiedlichen Bereichen zu geben.
Die EU und die gesamteuropäische Zusammenarbeit
Auch wenn im Zuge der oben beschriebenen Tendenzen Europa von allen Seiten (!) angefeindet wurde und wird: Betrachtet man die Fakten, so ist es ein politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches Erfolgsmodell. Alle Länder, nicht nur in der EU, haben profitiert, der Frieden wurde (im Großen und Ganzen) stabiler und Europa übernimmt nach und nach mehr von seiner globalen Verantwortung (z. B. post-kolonial oder klimatisch). Dass „Einheit in Vielfalt“ ein zentrales Motto der EU ist gerät dabei mitunter in Vergessenheit und doch beschreibt es einen Leitgedanken verantwortungsvoller Führung: Stets das Gesamtprojekt im Blick zu haben und was es an gemeinsamer Anstrengung braucht, und gleichzeitig die vielfältigen Beteiligten zu berücksichtigen, deren verschiedenen Perspektiven und Bedarfe. Kombiniert entsteht eine soziopolitische Quadratur des Kreises insoweit als dass alle gängigen Kritikpunkte damit außer Kraft gesetzt werden. Es braucht jedoch mehr klare Worte, starke Haltungen und starke Opposition gegen jene, die die Grundwerte aushöhlen wollen.
Kunstfest Weimar: Wofür wir kämpfen
Ein ganz anderes Beispiel beeindruckte mich nachhaltig diesen Sommer in Sachsen. Eine Eröffnungsrede des Kunstfests erläuterte das Veranstaltungsmotto „Wofür wir kämpfen“ Wort für Wort und beschrieb auf beeindruckende Art und Weise die enorme Bedeutung klarer, positiver Vorstellungen der Zukunft: Wofür engagieren wir uns gemeinsam. Eine konstruktive, gemeinsame Befassung mit der kommenden Zeit kann so viel stärker wirken als simplistische Anschuldigungen. Dafür braucht es verantwortungsvolle Führung, die entsprechende Botschaften vermittelt und Entscheidungen trifft. In Weimar bestand die Entscheidung u.a. darin, als Eröffnungsstück eine inter-kulturelle Mixed-Ability-Tanzperformance zu zeigen, die auf einmalige Art und Weise „deutsches Kulturgut“ (Orffs Carmina Burana) und kollektives Erbe (Buchenwald ist nah) an symbolischem Ort (Goethe und Schiller thronen in der Platzmitte) zeigte. Von der Besetzung über die Produktion bis zum Bühnenbild mit (Lager)Rampe und (Wach)Turm gelang der Forward Dance Company eine zeitgemäße Verbindung von Kunst, Gesellschaft und Politik. Die Gesellschaft braucht mehr von dieser verantwortungsvollen Führung.
Integratives D&I Management in Unternehmen
Im Zuge hitziger Debatten über Quoten oder Regenbogenfahnen vergessen wir, dass das D&I Management in Unternehmen im Kern und im Ursprung als Gemeinschaftsansatz anlegt war – und vielerorts noch ist. Im Idealfall bringt es Menschen, die sich unterschiedlichen Gruppen zugehörig fühlen oder zugeschrieben werden – im Unternehmenssinne zielgerichtet – zusammen. Dabei nutzen wir die gemeinsame Wertebasis und gestalten Zusammenarbeit inklusiv und damit leistungsfördernd. Dabei hilft verantwortungsvolle Führung Managern, Komplexität zu meistern, verschiedene Bedarfe zu erkennen und zu berücksichtigen, und dabei stets eine positive Sinnstiftung als intrinsischen Antrieb zu bieten. Nach außen illustriert ein konsistentes D&I Management das Wertegerüst einer Organisation („Wofür wir stehen“) und wirkt dabei auch verantwortungsvoll auf Gesellschaft und Politik. Ich erwähne einschränkend, dass die D&I Programme vieler Unternehmen derzeit nicht klar genug integrativ angelegt sind; viele beginnen jedoch, die Lerneffekte der letzten Jahre für entsprechende Weiterentwicklungen zu nutzen.
Die gemeinsame Zukunft
Unter dem Eindruck der erwähnten Ereignisse des Jahres 2016 wollten wir eine neue Mission für Ungleich Besser entwickeln, es entstand Engineering D&I. 2017 stellte ich erste Grundgedanken in der Keynote „The Future of D&I“ in Mumbai vor. Seither nutze ich jede Gelegenheit, um vor polarisierenden Tendenzen und Lagerbildung (auch im D&I Bereich) zu warnen. Inzwischen – unter dem Eindruck anti-woker Boykotte, eines bayrischen Genderverbots oder der Untersagung von Regenbogenarmbinden u.v.m. – dürften alle DEI ExpertInnen verstanden haben, dass die Agenda der letzten zehn Jahre nicht störrisch fortgesetzt werden kann. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen sich auf ihre gemeinsame Zukunft besinnen und erkennen, dass das Meistern unserer komplexen Herausforderungen nicht bestimmten Partikularinteressen untergeordnet werden kann.
Führungskräften kommt hierbei eine noch größere Bedeutung zu als bereits zuvor. Sie müssen jenseits ihrer persönlichen Sichtweisen den Blick für das große Ganze öffnen, auf Werten bestehen und integrative Mechanismen etablieren. Darin ähnelt sich verantwortungsvolle Führung in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft mehr als viele denken. Und daher sollte es für alle nur einen Maßstab geben: Die gemeinsame Zukunft.
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