Vielfalt als Auftrag an Haltung und Handeln

Seit es Diversity gibt galt(en) die Kirche(n) als Gegenentwurf: Männerbündisch, missionierend und teilweise diskriminierend. 2022 fragt sich die Diakonie geradezu folgerichtig „Wer arbeitet noch für [uns]?“. Eine überraschend inspirierende Reflexion.

Traditionen überraschen weder im kirchlichen noch im bayrischen Umfeld und daher war ich gespannt auf das Umfeld für und die Reaktionen auf meinen Diversity Vortrag bei der jährlichen Führungskräftetagung diakonischer Unternehmen am Starnberger See. Zumal das Ziel der Tagung war, neue Perspektiven – mit Abstand vom Alltag – zu gewinnen und dafür auch externe, z. B. sozialwissenschaftliche Inputs für anspruchsvolle Reflexionen zu nutzen. Und tatsächlich: Ich habe selten so differenzierte und gleichzeitig praxistaugliche Grundsatzdiskussionen an der Schnittstelle von Ideologie, Gesellschaft, Politik und Arbeitsplatz geführt. Aber von vorne:

Vielfalt als neues Thema für Kirchen

Diversity ist untrennbar mit gesellschaftlichen Umbrüchen der Nachkriegsjahrzehnte verbunden und daher für 500 bis 5.000 Jahre alte Religionsgemeinschaften ein krass neuartiges Phänomen. Diese scheinbar triviale Erkenntnis ist für die theoretische Reflexion ebenso relevant wie für die praktische Bearbeitung. Denn das Thema Vielfalt war im kirchlichen Geschäftsmodell bis auf wenige Ausnahmen nie mitgedacht worden. Dafür gab es jahrhundertelang keinen Anlass. Stattdessen nutzte Kirche Normativität zur Profilbildung sowie mitunter zur Ab- oder Ausgrenzung (Stichworte: Andersdenkende oder Ungläubige). Diversity somit chancenlos? Immerhin hat das kriegsgewohnte Europa das Konzept „Einheit in Vielfalt“ gelernt und sogar das kompromisslose Militär hat sich Frauen und Homosexuellen geöffnet. Mit solchen Vorlagen sollte es zumindest für intrinsisch motivierte Sozialunternehmen vergleichsweise einfach sein, Diversity als wertvolles Konzept zu erfassen.

Vielfalt als Beitrag zur Mission

Fragt man kirchliche soziale Träger nach deren Auftrag und Selbstverständnis, erscheint der Fokus Mensch rasch und unmittelbar und mit ihm die „verbindende Idee“ (Peter Beer), die Glaube ausmachen kann (und in folglich auch Kirche oder Diakonie künftig prägen kann). Beides, Fokus Mensch und der verbindende Grundgedanke, ist nicht nur überaus vereinbar mit Diversity – es beschreibt geradezu Vielfalt und Einbeziehung mit anderen Worten.

Solche Darstellungen klingen wie die spitzfindige Idee eines Spindoctors, wenn man sie mit den ideologischen Altlasten z. B. christlicher Kirchen vergleicht (Stichwort: Loyalitätsrichtlinie). Und genau dort finden wir die Reibungspunkte, auf die die meisten Diversity-Diskussionen immer wieder zurückgeworfen werden – zumindest in dem kirchlich gesehen kurzen Zeitfenster von 15 Jahren, in denen ich daran beteiligt bin.

Vielfalt im kirchlich-sozialen Umfeld gestalten

Zwei wesentliche Aspekte, in denen sich Kirchen rasch ins Jetzt entwickelt haben, füllen den Bereich, den die Wirtschaft mit Inclusion (= beobachtbare, praktische Einziehung) bezeichnet: Einerseits sehen wir einen Wandel von Dogmen hin zu sinnhaften Regelungen, die im jeweiligen Kontext gut vermittelbar sind (und sich ggf. für Kirche oder Sozialbetrieb unterscheiden). Andererseits finden wir in der breiten Gesellschaft einen neuen Wunsch nach modellhaftem Verhalten, das authentisch und glaubhaft die proklamierten Werte praktisch erlebbar macht. Auch dies ein Element, das Kirche und kirchliche Sozialbetriebe im besten Sinne aus Tradition heraus praktizieren.

Mit diesen Bausteinen verfügen kirchliche Sozialbetriebe über einen enormen, immanenten Hebel, der in der Wirtschaft mühsam erarbeitet werden muss. Andererseits setzt diese Form der gestaltenden Einbeziehung  Klarheit und Einvernehmen über die zugrundeliegende Wertebasis voraus (wie dies auch in der Wirtschaft oder in Gesellschaften erforderlich ist). Denn Verhalten ist letztlich die Sichtbarwerdung innerer Überzeugungen (vgl. kognitiver Prozess als Grundfunktionsweise des Menschen).

Vielfalt als Testfall für christliche Werte

In der jüdischen Tradition verfügt jeder Rabbi über die Autorität, die (uralten) Worte der Thora im neuzeitlichen Kontext neu zu interpretieren[1]. Die christlichen Kirchen profilieren sich derweil an vielen Stellen damit, sich bewusst gegen gesellschaftliche Entwicklungen zu stemmen[2]. Ihr Markenkern erscheint – wortwörtlich – sakrosankt, was zunehmend überlebensrelevante Fragen aufwirft: Der dauerhafte Abwärtstrend der Mitgliedszahlen christlicher Kirchen dient hier als tiefroter KPI, während sich für die Diakonie (oder auch die Caritas) aus dieser Profilierung nicht nur ein Wertefokus, sondern auch erhebliche Schwierigkeiten in der Personalgewinnung ergeben; mithin der Titel der Buß- und Bettags-Tagung 2022.

Analysen und Diskussionen ergaben (fast) übereinstimmend, dass die strategischen Abwägungen für die Kirchen und deren Sozialunternehmen durchaus unterschiedlich ausfallen. Für eine Kirche stellt es eine mögliche Wahlentscheidung dar, mit einem unveränderten Wertegerüst eine schrumpfende „Zielgruppe“ zu erreichen[3]. Für ein kirchliches Sozialunternehmen dagegen besteht die Notwendigkeit, die mittelbar als Leitlinien geltenden Kirchenwerte im Rahmen seiner Aufgabenstellung so zu interpretieren, dass sie relevant, glaubwürdig und im positiven Sinne handlungsleitend werden und wirken. Dies erfordert eine Orientierung an der gesamten Gesellschaft, aus der sich sowohl die KundInnen wie auch die MitarbeiterInnen rekrutieren.

Vielfalt als Zukunftspotenzial des sozialen Sektors

Überwindet man den Anfangswiderstand, den historische ideologische Kirchenpositionen in Bezug auf Vielfalt mit sich bringen können, entsteht rasch ein attraktives Konzept für kirchliche Sozialunternehmen: Ihre von Grund auf sinnstiftende Tätigkeit, getragen von relevanten Werten und organisiert mit konstruktiven zwischenmenschlichen Regeln bildet auch auf engen Arbeitsmärkten eine vielversprechende Arbeitgeberpositionierung.

Die Navigation zwischen zunehmenden wirtschaftlichen Zwängen und normativen Kontrollwünschen der übergeordneten Institutionen stellt eine echte Herausforderung an Grundsatzarbeit und Kommunikation für diakonische und caritative Betriebe dar. Am Ende dürften auch hier – wie schon in der Wirtschaft – die handelnden Personen den Ausschlag geben: Menschen, die eine Organisation und ihre Werte durch ihr vorbildliches Handeln vertreten und prägen und damit mehr (aus)sagen (und erreichen) als die besten Arbeitgeberkampagnen dies je könnten. Menschen hierzu zu befähigen (und ggf. zu entwickeln) bleibt daher eine der zentralsten Aufgaben gerade für Sozialunternehmen.

Auf der diakonischen Jahrestagung konnte ich erleben, dass dies für die teilnehmenden Führungskräfte in beeindruckender Weise geschieht: In einer ungewöhnlichen Kombination von ideologisch scharfsinnigen Reflexionen und engagierten Praxisdiskussionen übten sich TeilnehmerInnen und ReferentInnen in immer neuen Formen des diskursiven Spagats. Am Ende ein unerwartetes Vorbild für viele Wirtschaftskontexte.

 

Der Band der Tagung 2022 „Wer arbeitet noch für die Diakonie?“ ist seit November 2023 als e-Publikationen unter https://www.mi-di.de/materialien/ verfügbar.

 

Weitere Beiträge zu religiöser Vielfalt und zu Diversity im nicht-gewinnorientierten Umfeld finden Sie hier

https://de.diversitymine.eu/tag/religion/ bzw. hier https://de.diversitymine.eu/category/non-profit/

 

[1] dies ist tatsächlich häufig erforderlich, wie zum Beispiel in der Frage des Umgangs mit Lichtschaltern am Sabbat

[2] diese kirchliche Perspektive wurde auch auf der Tagung immer wieder aktiv vertreten und kollidierte spürbar mit Positionen und Realitäten der sozialen Betriebe

[3] Sinkende Mitgliederzahlen müssen dann positiv gesehen und akzeptiert werden – allerdings in der längerfristigen Folge auch die Aberkennung des mächtigen Vertretungsanspruches, der bislang aus den hohen Mitgliedszahlen abgeleitet wurde