VIELTFALT KÖNNTE DIE WAHL ENTSCHEIDEN

Es ist eine simple Rechnung: Allein die Frauen könnten bei der kommenden Bundestagswahl die absolute
Mehrheit erzielen. Nähmen sie von den Männern noch die hinzu, die nicht ‚Mainstream’ sind, könnten sie
gemeinsam die Verfassung ändern – und zwar selbst dann, wenn es viele sogenannte Abweichler gäbe. Abweichler – das ist einer jener Begriffe, die sehr plastisch die politische Kultur in Deutschland repräsentieren. Einer ideologischen, pardon: politischen Linie müssen sich die Gefolgsleute vollumfänglich hingeben, sonst droht Ächtung. Dabei ist die Realität mehr denn je von einem mentalen Cafeteria-System geprägt. Wir finden uns in manchen Positionen der einen wieder und gewissen Ideen der anderen. Daher kommt es nicht selten vor, dass beim Ausfüllen des Wahl-O-Mats der Bundeszentrale für politische Bildung dieser überraschende Ergebnisse präsentiert. Er startet übrigens diese Woche am 29. August. Es ist ein Glücksfall der Freiheit, dass Menschen heute nicht mehr monolithisch sind bzw. sein müssen. Hybrid nennen es die Marketer: Morgens Bio-Müsli, mittags Schnellimbiss, abends global Fusion-Trennkost. Diese gefühlt grenzenlose innere Vielfalt stellt jedoch umgekehrt den Grund dar, weshalb die vielfältigengesellschaftlichen Gruppen in Deutschland derzeit noch nicht wahlentscheidend sind. Zu vielschichtig sind die Partikularinteressen der Bürgerinnen und Bürger – und das mag sicher auch gut so sein. Gleichzeitig ist es bedauerlich, dass sich in fast keiner Gruppe ein Gefühl von Gemeinschaft – Community – bildet. Bei den zahlenmäßig kleinsten Gruppen existiert dieses lokal, regional und international: Die jüdische Gemeinschaft und die Gay Community machen vor, was den großen Gruppen nicht einmal im Ansatz gelingt. Aber auch sie wählen nicht selten Parteien, die ganz konkret gegen die Interessen der jeweiligen Community arbeiten. Weil sie eben viele Anliegen haben und eine zu schwach ausgeprägt Gruppenidentität. Die deutsche Politik hat seit Beginn der dritten industriellen Revolution und damit seit Beginn der steigenden Bedeutung von Diversity kein Konzept zu Gestaltung
der neuen Vielfalt entwickelt. Im Gegenteil: Unabhängig von der politischen Ausrichtung hatte die Regierung stets ein Interesse daran, durch disperse Ressortverteilungen dafür zu sorgen, dass Vielfaltsperspektiven als kleinte
ilige Partikularinteressen erscheinen. Das wiederum erklärt die fehlende Entwicklung von Community-Identitäten, was umgekehrt der Politik entgegen kommt. Die weitere Differenzierung und Individualisierung der Gesellschaft schafft jedoch neue Fakten und die werden von der Politik häufig sehr spät und meist sehr ungern anerkannt. Wie vieles eine Frage der Zeit.