Schwarze Models, schwulesbische Flaggen, sprachlich gegendert: Die Werbung ist bunt geworden. Gefühlt über Nacht, überall und für manche übertrieben. Die Art und Weise wie Unternehmen Vielfalt sichtbar machen erhitzt die Gemüter auf teils unerwartete Weise und auf allen Seiten. Anscheinend geht es hier um deutlich mehr als Geschmacksfragen – das besprechen auch aktuelle Medienberichte.
Unzählige Unternehmen schlagen – scheinbar einmütig – eine neue Richtung ein und ernten damit von (fast) allen Seiten mitunter heftige Kritik. Dieses Phänomen muss überraschen und als Indiz für tiefere Verwerfungen verstanden werden. Da ich die Veränderungen der Diversity-Landschaft bereits lange beobachte, sehe ich hier die Spitze des Eisberges der Polarisierung, Politisierung und Polemisierung unternehmerischer Diversity-Arbeit. Für sich genommen keine ganz neuen Themen, in ihrer aktuellen Kombination und Härte allerdings komplex und mitunter bedrohlich.
Unter anderem WDR5 ‚Politikum‘ und der Diversity Podcast ‚Yvonne & Berner‘ haben die Lage beleuchtet und die Engineering D&I Sichtweise trug dazu bei, sowohl Details und ihre Verbindungen wie auch das große Ganze einzuordnen. Hier eine Übersicht von 3 dort diskutierten Werbe- und PR-Fragen; zuvor jedoch 3 grundlegende Aspekte, die das thematische Grundrauschen beider Beiträge beschreiben.
Grundlegendes
Ist Diversity plötzlich politisch geworden – oder wird es dazu gemacht?
Diversity Management bildete von Anfang an das positive, stärken- und potenzialorientierte Pendant zur Benachteiligungskompensation und -prävention politischer Nichtdiskriminierungsansätze. Dies ermöglicht Unternehmen gleichzeitig – und auf elegante Weise – sich nicht (partei) politisch oder ideologisch positionieren zu müssen. Da Vielfaltsthemen in der Gesellschaft wichtiger und damit in Parteiprogrammen sichtbarer wurden entstand eine Unschärfe, die u.a. die UEFA dazu verleitete, das Zeigen von Regenbogenfarben als politisches Statement zu benennen.
Ist damit Diversity für Unternehmen ein heißes politisches Eisen (geworden), zu dem sie sich nicht äußern sollten? Einem Senior Executive in den USA riet ich neulich dazu, sich auf kontext-konforme, rationale, wirtschaftliche Argumente und auf fast überall zu findende Unternehmenswerte (z. B. Offenheit, Respekt, Neugier) zu konzentrieren.
Mehr dazu http://de.diversitymine.eu/why-you-should-clean-up-your-di-messaging-and-how/
Wie können alle Menschen – und Themen – glaubhaft von Unternehmen integriert werden?
Nur wenige Jahre dauerte es, bis sich die internationalen (‚westlichen‘) VordenkerInnen einig waren, dass Diversity stehts breit (über Einzelthemen hinweg) und umfassend (alle Teilgruppen eines Themas einbeziehend) angelegt sein sollte. Studien und Analysen identifizierten die diskriminierungsanfälligen Kerndimensionen mit ein paar wenigen Variationen. Darüber hinaus sollten Unternehmen basierend auf Kontext und strategischen Prioritäten weitere Themen in den Blick nehmen.
Der starke Wunsch (oder Befehl) nach selektivem (oder politischem) Fokus verhinderte Breite und umfassende Einbindung. Der Google Memo Case zeigte (als prominentester von vielen), dass unzählige Lösungsansätze unbeachtet blieben: mehr Männer in Gender, mehr Straight Allies in LGBT und überhaupt einmal die mittlere Altersgruppe bei Age Diversity einzubinden. Lösungen hierfür existieren und erfordern eine Abkehr von liebgewonnen Segmentierungen und Fokussierungen – und die Aufgabe von Privilegien.
Mehr dazu: http://ungleich-besser.de/diversity-verstaendnis/alle-erfolgreich-einbeziehen/
Wie könnten – oder sollten – Unternehmen die ganze, auch nicht-sichtbare Vielfalt kommunizieren?
Vielfalt entsteht durch Unterschiede und so blieb es für viele Diversity-PraktikerInnen sakrosankt und nicht selten gefördert durch persönliche Hintergründe, sich den großen, sichtbaren Themen zu widmen. Zum überragenden Gender- bzw. de facto häufig Frauenfokus, kommen KPI freundlichen Themen (Nationalität, Alter) und öffentlichkeitswirksame (LGBT, Behinderung) hinzu. Das provozierte (wortwörtlich) die Entstehung der ‚Diversity-of-Thought‘-Bewegung, die mit ihrem Business Case erfolgreich von ‚unangenehmen‘ Themen (Privilegien, systemische Benachteiligung) ablenkte und jüngst zur ‚Diversity-of-Opinion‘ Fraktion mutierte – das direkte Pendant zur deutschen Querdenker-Meinungsfreiheit-Fraktion.
Umgehen lassen sich derartige Spaltungen z. B. mit dem ‚Potenzial-Prinzip‘. Es beschreibt nicht nur – evidenzbasiert – die Entstehung von Mehrwerten aus Vielfalt, sondern damit auch ihre Gemeinsamkeiten, welche Werte als Verbindung dienen und welche Verhaltensweisen schließlich für Beteiligte und für Organisationen konstruktiv und damit wert- und sinnvoll sind.
Diversity Werbung & PR
Muss Werbung Wirklichkeit abbilden – oder soll sie Wunschwelten zeigen?
Werbung muss vor allem Wünsche – und damit Emotionen – auslösen und sie muss Identifikation ermöglichen. Letzteres war für viele Bevölkerungsgruppen – in der Summe sicherlich die Mehrheit – schwierig, weil sie keine ProtagonistInnen ihresgleichen fanden. So mussten Frauen Jahrzehnte auf die erste autofahrende Werbefrau warten obwohl die erste Autofahrerin überhaupt eine Frau war, Bertha Benz. So sehr marginalisierte (wortwörtlich) Gruppen an ihre Situation gewöhnt waren, so wenig sind sie heute bereit, sich damit abzufinden.
Analysen zeigen, dass Werbung viel aufzuholen hat und dass Marketer und Werber mitunter den Handlungsbedarf nicht sehen oder wenig Bereitschaft für Diversity zeigen. Massenmarktstrategien oder Marktforschung mit Mainstream-Bias helfen hier kaum. Wie viele große Märkte an findige ‚Nischen‘anbieter verloren gingen – das spricht eine Sprache, die auch MarketingmanagerInnen verstehen.
Wann sind Diversity-Motive vielfältig und wann klischeehaft?
Ebenso ikonisch wie umstritten bleibt ‚United Colors of Benetton‘ für eine bahnbrechende (1980er Jahre!) und provokante Zur-Schau-Stellung von Vielfalt – von ‚all the colors of the world‘ bis zur HIV-Tätowierung(!). Sie dient als Lehrstück für die Gratwanderung zwischen Wertschätzung und Abschätzigkeit – auch und gerade weil schon damals alle Motive sehr unterschiedlich interpretiert wurden.
Identität und ihre Ausdrucksformen bilden ein Herzstück dieses Jahrzehnts. Daher wird jede Visualisierung von Vielfalt eine Bandbreite von Wahrnehmungen, Assoziationen und Reaktionen auslösen. Diese entfalten in der digitalen Realität ihre eigene Dynamik: Eine Kritik ebenso nachvollziehbar wie krass zu platzieren garantiert Likes und Shares. Vor allem, wenn sie von echten ExpertInnen kommt (aka ‚Karen on the Internet‘).
Mehr dazu http://de.diversitymine.eu/rassistische-reaktionen-auf-dunkelhaeutiges-model-in-tschechien/
Diversity-Symbole & Community-Events: solidarische Haltung oder kommerzielle Aneignung der Firmen?
Regenbogenflaggen und -farben sowie CSD/Pride-Events zeigen stellvertretend für weitere Themen die komplizierte Gemengelage aus den zuvor beschriebenen Aspekten und darüber hinaus:
- Firmenbeteiligungen an CSD-Paraden werden von Teilen der LGBTQI* Community gefeiert (schließlich wünschte man sich diese Solidarität seit Jahrzehnten), von anderen als mögliches Pinkwashing kritisch hinterfragt (hier werden sehr unterschiedliche Kriterien angelegt)
- In Regenbogenfarben eingefärbte Firmenlogos (überwiegend in sozialen Medien) ereilt dasselbe Schicksal: Von vorbildlichem ‚Flaggezeigen‘ bis zu flüchtiger Effekthascherei in westlichen Wohlfühlzonen reichen die Interpretationen der Community
- Diese öffentlich stattfindenden Kommunikationen erhalten entsprechende, meist öffentliche Reaktionen aus allen Teilen des Massenmarktes. Auch hier reichen diese von Jubel und Bestärkung über Verbesserungsvorschläge („macht so etwas doch bitte auch für _______“) bis hin zu Ablehnung und Boykottaufrufen (zur Vermeidung des Unterganges des Abendlandes).
Das ethische Grundgerüst eines Unternehmens, seine interne ‚Diversity-Solidität‘ und seine vorherige Verankerung in der Queer-Community gelten – anders als noch vor 10-15 Jahren – nicht mehr als zwingende Voraussetzung einer Beteiligung. Das Engagement einer internen LGBT-Gruppe – verstärkt durch eine Werbeagentur – dient als Eintrittskarte.
Für die Rainbow-Maßnahmen großer Marken fällt die Bilanz 2022 gemischt aus: Unscharfe Kommunikation mit Image-Dämpfer als Nebenkosten. Wie schon bei den Werbemotiven stellt sich auch hier die Frage: Können es Unternehmen heutzutage überhaupt noch allen recht machen?
Worin besteht der Diversity-Auftrag großer Unternehmen jenseits des Diversity-Kalenders?
Soll Werbung den Wertewandel einer Gesellschaft fördern und progressiv vorwegnehmen oder behutsam bereits vollzogene Entwicklungen abbilden? Diese Grundsatzfrage besteht analog für Diversity: Sollen Unternehmen Differenzierung und Öffnung eigenständig und aktiv betreiben oder nachfrageorientiert an etablierten Formaten mitwirken? Die offizielle Antwort vieler Unternehmen dürfte der proaktive Anspruch sein – die Realität der meisten Firmen entspricht eher dem Kalender- und Initiativen-Ansatz.
Mehr dazu http://de.diversitymine.eu/business-based-reactions-to-anti-diversity-policies/
Die Antworten sollten für Unternehmen je nach Branche und (Diversity) Reifegrad durchaus unterschiedlich ausfallen – und auch die Vorreiter der 2000er sowie die Shootingstars der 2010er Jahre dürfen sich selbstkritisch fragen, ob sie in allen Bereichen stets nur Fortschritte gemacht haben und welches ihre Next-Levels sind.
Link http://de.diversitymine.eu/moving-from-initiatives-to-impact/
Auch wenn die Vokabel eine schwierige Konnotation mit sich bringt: Die weitere Normalisierung von Vielfalt und Einbeziehung muss weiterhin das langfristige Ziel der D&I-Arbeit sein – und damit das vielbeschworene Sich-Selbst-Überflüssig-Machen von D&I. Dieser Beitrag hat – dank WDR5 und Yvonne&Berner – aktuelle, komplexe Phänomene eingeordnet und gezeigt, dass die Differenzierung von Diversity Grenzen erreicht hat, während die Integration von Diversity große Chancen birgt. Integration sowohl bezogen auf die Diversity-Themen untereinander wie auch bezogen auf die Unternehmensrealität.
Denn das tägliche Erleben des Arbeitsplatzes und die konkret erfahrene Zusammenarbeit mit KollegInnen und Führungskräften bildet für Beschäftigte den Gradmesser für D&I schlechthin. Welchen Beitrag jährliche Aktionen und externe Netzwerke oder Preise dazu leisten sollten Aufwand-Nutzen-Abwägungen zeigen. Maßnahmen, die direkt am Alltag ansetzen punkten in jedem Fall durch fehlende Streuverluste und Umwege.
Mehr dazu http://de.diversitymine.eu/diverse-teams-are-great-but-not-equally-for-all/
Normalität jüdischen Lebens in Deutschland
Jüdisches Leben und jüdische Kultur haben seit Jahrzehnten einen selbstverständlichen Platz in meinem Leben und dem meiner Herkunftsfamilie. Ich hatte daher stets ein paar Einblicke in die Normalität jüdischen Lebens in Deutschland und auch in das, was in den Communities als Normalität akzeptiert wurde oder werden musste – wie z. B. ständiger Polizeischutz vieler Einrichtungen. Eine Art von Normalität, in die ich mich nicht hineindenken kann und von der ich bis heute wenig Vorstellung davon habe, wie sie sich auf Menschen auswirkt.
Umso erfrischender empfinde ich den Anspruch der ARD und von Daniel Donskoy, mit Freitagnacht Jews nur einen Fokus zu setzen: auf das alltägliche jüdische Leben in Deutschland – also die Normalität. Das war in der ersten Staffel noch so und für die gab es – symbolisch oder nicht – einen Grimme-Preis. In der zweiten – ist es schon die zweite oder erst die zweite? – erlagen die MacherInnen der Versuchung, kosmopolitisch zu werden. Ja, für die jüdische Community bedeutet globale Präsenz etwas ganz anderes als für international lebende SpanierInnen. Nach einer Staffel bereits raus aus Deutschland zu gehen erscheint mir dennoch rasant.
Ach, da ist sie ja wieder, die gerade noch erwähnte Kritikneigung der heutigen Zeit…
Links
WDR5 Politikum https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/politikum/index.html
Sendung Diversity Werbung https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-politikum-gespraech/audio-kompliziert-diversity-in-der-werbung-100.html
Yvonne und Berner Podcast Folge vom 19.10. https://open.spotify.com/episode/6AxmWAOsLHq6AeBCnfZUDC?si=763c2e3862b444a9&nd=1
Freitagnacht Jews: https://www1.wdr.de/kultur/freitagnachtjews/index.html