Zuwanderer sollen sich assimilieren

Eine erneute Auswertung von Eurobarometer-Daten durch die OECD zeigt eine Erwartungshaltung der europäischen Öffentlichkeit, dass sich Zuwanderer an ihre zukünftigen Heimatländer anpassen sollten. Dieses Verständnis von „Integration“ birgt Konsequenzen für D&I, wie dieser Beitrag zeigt.

Die breit angelegte Eurobarometer-Umfrage der EU bietet eine besondere Gelegenheit, die öffentliche Meinung zu wichtigen D&I-Themen zu kennen und zu vergleichen. Die neuste Untersuchung der Daten zur „Integration of immigrants in the European Union“, die von der OECD durchgeführt wurde, eröffnet interessante Einblicke in den Zustand der Gesellschaften in der EU in Bezug auf kulturelle sowie ethnische Vielfalt und Herkunft.

3 Schritte zur erfolgreichen Integration

In Gesamt-Europa gelten die drei folgenden Faktoren als wichtigste Elemente für eine erfolgreiche Integration von MigrantInnen:

  • die Fähigkeit, die Sprache des Landes zu sprechen
  • einen Beitrag zum Wohlfahrtssystem durch die Abgabe von Steuern zu leisten
  • das Bekenntnis zur Lebensweise durch die Akzeptanz der Werte und Normen der Gesellschaft des Gastlandes zu zeigen

Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass die europäischen Befragten hohe Erwartungen an Integration haben. „Die Menschen wollen, dass sich ihre neuen Nachbarn vom ersten Tag an assimilieren und einen Beitrag leisten“, stellt der europäische D&I-Ingenieur Michael Stuber fest, „während sie sich anscheinend weniger bewusst sind, welchen Mehrwert die zusätzliche Vielfalt für ihre Gesellschaft mit sich bringt“. Er hinterfragt, ob die Teilnehmenden selbst gewillt und imstande wären, in eine andere Kultur einzutauchen, und sei es nur während einer Urlaubsreise.

Verzeihung, wir sprechen kein ausländisch

Die OECD-Analyse zeigt, dass die Sprache in 15 von 25 Ländern im Durchschnitt am höchsten und in sieben weiteren Ländern, darunter Deutschland, am zweithöchsten bewertet wird. Einerseits liegt die Bedeutung der Sprache auf der Hand: Wir nutzen sie, um miteinander zu kommunizieren und einander zu verstehen. Je nach Land oder Kultur kann die Sprache auch einen tiefen kulturellen Wert haben – zum Beispiel in Frankreich, Polen, Spanien oder, mit zusätzlicher Dynamik, in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens. „Von MigrantInnen zu verlangen, dass sie die Landessprache sprechen, ist eine kodierte Aufforderung, sich der Kultur unterzuordnen“, erklärt Stuber. Muttersprachen werden zum Schutz der Identität verwendet, und die Mehrsprachigkeit gilt als Bedrohung. „Eine ähnliche Dynamik erfahren Unternehmen, wenn sie eine Lingua franca – in der Regel Englisch – einführen“, so Stuber weiter. Dies und die Mehrsprachigkeit seien jedoch unerlässlich, um Geschäfte zu entwickeln und unsere Grundhaltung für andere Kulturen zu öffnen, fügt er hinzu.

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Erfahrungen im Umgang mit Fremdheit

Die Umfrage bestätigt auch, dass Menschen, die den Kontakt zu Personen mit Migrationshintergrund pflegen, eine positivere Meinung über die Integration in ihrem eigenen Land haben, und dennoch häufig skeptisch gegenüber Einwanderung als solche sind. Die Wahrscheinlichkeit, Zuwanderung als Vorteil zu sehen, liegt um bis zu 12 Prozent höher, wenn man Zugewanderte in der Familie oder im Freundeskreis hat, im Vergleich dazu, wenn dies nicht der Fall ist. Einmal mehr zeigt sich, dass die Konstruktion von Fremdheit in einem homogenen Umfeld verhindert, die Vorteile von Vielfalt zu erkennen.

Eine Studie der Universität Bremen fand heraus, dass sich interkulturelle (und interreligiöse) Konflikte sowie Vorurteile durch Dialoge verringern und sogar freundschaftliche Bindungen schaffen können. Durch das gegenseitige Kennenlernen außerhalb des Arbeitsalltags konnten die Teilnehmenden an der Studie ein ganzheitlicheres Verständnis füreinander entwickeln – und damit letztlich Aufgeschlossenheit fördern.

Beide Studien untermauern die Bedeutung einer umfassenden und eingehenden Auseinandersetzung mit Vielfalt, die insbesondere über eine Alibifreundschaft hinausgehen muss. „Für D&I ist dies ein klarer Hinweis, oberflächliche Vielfaltsfeierlichkeiten zu überdenken“, kommentiert Stuber, „denn kulturelle Transformation erfordert Reflexion und Erfahrung über einen gewissen Zeitraum hinweg“.

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Ausbeutung vs. Schutz des Wohlfahrtsstaates

Die OECD-Analyse hebt auch den finanzpolitischen Aspekt von Integration hervor und stellt fest, dass der „Beitrag zum Wohlfahrtssystem“ insgesamt als Zeichen einer gelungenen Integration an zweiter Stelle steht. In acht Ländern rangierte dieser Punkt an erster, in fünfzehn weiteren an zweiter Stelle. Das Ergebnis zeigt den hartnäckigen Mythos, dass „Migranten vom Staat/unserem Geld leben“ oder anderen „Arbeit wegnehmen“. Beide wurden längst durch mehrere Studien widerlegt, halten sich jedoch, da sie leicht zu glauben sind.

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Werte überdenken und Normen neu erfinden

Die OECD-Analyse zeigt weiterhin, dass das Bekenntnis zur Lebensweise, zu den Normen und Werten des Gastlandes in 12 Ländern an dritter oder höherer Stelle steht. Dieses Ergebnis ist aus mehreren Gründen erstaunlich:

  • In den meisten Ländern oder gar in der EU als Ganzes, wurden bislang keine gemeinsamen Normen und Werte identifiziert oder jenseits grundlegender Rechtsnormen definiert (anders als in vielen Unternehmen), und es besteht kaum Einigkeit in den Gesellschaften, wie sie aussehen könnten.
  • explizite Normen in der EU umfassen bereits konkrete Rechte für verschiedene Vielfaltsgruppen

Ironischerweise ist es für Minderheiten, einschließlich MigrantInnen, relativ einfach, implizite Regeln und damit verbundene Privilegien zu erkennen, während die dominanten Mainstream-Gruppen dafür sensibilisiert werden müssen. Dies zeigt zwei Ähnlichkeiten mit der D&I-Arbeit in Unternehmen, wo die „kulturelle Passung“ oft als implizites Kriterium dient und dominante Gruppen auf bestehende Barrieren und Vorurteile aufmerksam gemacht werden müssen.

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Konsequenzen für die D&I-Praxis

Die wahrgenommene Bedeutung der Sprache für die gesellschaftliche Integration zeigt sowohl den Wunsch, die Identität zu schützen, als auch die Forderung nach Anpassung – mit Nachteilen für alle Beteiligten. Kombiniert mit der Erwartung, sich an implizite (alias unausgesprochene) Normen und Werte zu halten, entsteht eine Hierarchie, in der Vielfalt schwerlich einen Nutzen darstellen kann. Das wiederum ist eine weitere Erwartungshaltung der europäischen Öffentlichkeit. Die Daten scheinen darauf hinzudeuten, dass Europa nicht gut aufgestellt ist, das Beste aus wachsender Vielfalt zu machen und den Wohlstand aller zu sichern.

Für Praktiker/Innen im Bereich Diversity & Inclusion bestätigen die Erkenntnisse, dass

  • Chancengleichheit, z.B. hinsichtlich der Sprache, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass D&I erfolgreich sein kann. In vielen Situationen kann dies erfordern, dass wir alle in unserer zweiten (oder dritten) Sprache sprechen…
  • Positive Kontakterfahrungen fördern einen Entwicklungsprozess in Richtung der erforderlichen Aufgeschlossenheit für Vielfalt
  • Mythen wirken in jedem System toxisch und behindern die Weiterentwicklung einer Gesellschaft
  • Das Deutlichmachen von Vorteilen für alle fördert die Bereitschaft, Lernen und Veränderungen in Betracht zu ziehen
  • Implizite Normen müssen identifiziert und dann kollektiv reflektiert werden, damit sie entweder angenommen oder weiterentwickelt werden können